Recyclinghaus Hannover: Neues Leben für alte Materialien
Baustoffrecycling mit wiederverwendeten Materialien
Immer Gesprächsstoff mit Nachbarn und Passanten haben Achim Bothmann und Dorothee Weinlich, seit sie 2019 als Mieter in ihr Haus in Hannover-Kronsberg gezogen sind. Es hat nicht nur ein außergewöhnliches Äußeres, sondern besteht auch komplett aus wiederverwendeten oder recycelten Baustoffen.
Eine Reportage über ein besonderes Haus.
Alltag im Recyclinghaus
„Einmal stand sogar ein Ehepaar aus Köln vor dem Zaun“, erzählt Achim Bothmann. „Beide hatten die Fahrt auf sich genommen, um das Haus ‚in echt‘ zu sehen.“ Bothmann genießt diese Unterhaltungen sehr und freut sich zudem über die Reaktionen auf lustige Wochen-Sprüche, die er immer wieder mit Kreide auf ein Gewürzregal neben dem Hauseingang schreibt.
Sobald die Gesprächspartner erfahren, dass es sich bei dem Gebäude um ein Haus aus Recyclingmaterialien handelt, ist die nächste Frage: „Und wie lebt es sich darin?“ „Prima“, antwortet Achim Bothmann dann – und ergänzt: „Die Architekten haben Alt und Neu toll kombiniert, und ständig entdecken wir neue liebevoll und gründlich durchdachte Details.“
Fassade alt – Verglasung neu
So besteht zum Beispiel die Fassade aus wiederverwendeten, dunkelgrau neu beschichteten Faserzementplatten, Holzlatten aus alten Saunabänken und gebrauchten Profilbaugläsern. Diese Gläser sind ein typisches Industrie-Baumaterial und stammen aus dem Abbruch einer ehemaligen Lackiererei in Hannover. Die Profilgläser sind ganz unterschiedlich gefärbt. Das stört aber nicht, sondern macht im Gegenteil die Fassade sehr lebendig. Gedämmt sind die Fassadenbauteile im Übrigen mit gebrauchten Jute-Kakaobohnensäcken.
Um den guten Dämmstandard der gesamten Außenhülle zu gewährleisten, wurden die Fenster mit neuen 3-fach-Verglasungen versehen. Das Alte und das Neue verträgt sich hervorragend, wie Achim Bothmann erzählt: „Die modulare Fassade wurde natürlich ganz neu zusammengesetzt und die Fenster sehr sorgfältig von erfahrenen Handwerkern eingebaut.“ Nur an einen Zwischenfall erinnert er sich: „Als wir einen schlimmen Sturm hatten, wurde Regen nach innen gedrückt. Das lag aber daran, dass sich kleine Bohrungen in den alten Fensterprofilen im Lauf der Jahre zugesetzt hatten. Die Verstopfungen waren mit einem Zahnstocher schnell beseitigt. Seitdem dringt keine Feuchtigkeit mehr ein.“
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Kreative Bezugsquellen und neue Ideen sind wichtig beim Baustoffrecycling
Die Fenster stammen aus einem Sanierungsprojekt in Hannover, das die örtliche Bauunternehmung Gundlach ausgeführt hatte. Sie ist die Initiatorin des Recyclingprojekts. Hier wollte sie ausloten, ob ein Haus tatsächlich komplett aus wiederverwendeten, aufbereiteten und industriell recycelten Baustoffen hergestellt werden kann. Aus der Erfahrung heißt die Antwort ganz klar: Ja!
Es gibt allerdings ein paar Voraussetzungen für das Gelingen. Die wichtigsten: engagierte Handwerker und ein großes Netz von Bezugsquellen. Letztere reichten vom eigenen Materialpool der Bauunternehmung über Baustoffbörsen bis zu Materialscouts, die extra auf Recherche nach Verwertbarem geschickt wurden.
„Die Idee, Kronkorken zu verwenden, entstand beim Mittagstisch“, erzählt Nils Nolting, planender Architekt des Recyclinghauses. Sein Büro, Cityförster architecture + urbanism aus Hannover, gewann den Architektenwettbewerb, den die Bauunternehmung Gundlach eigens für das Recyclinghaus ausgeschrieben hatte.
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„Graue Energie“ beim Hausbau reduzieren
Im Zentrum des Entwurfs standen Gedanken zu Effizienz und Materialkreisläufen: Die gebrauchten Bauelemente und -stoffe sollten überwiegend aus der Region Hannover stammen, also mit kurzen Transportwegen verbunden sein. Wichtig außerdem: wenig Müll beim Bauprozess – inklusive der Weiterverwendung von Materialresten auf der Baustelle. So sollte die sogenannte graue Energie reduziert werden, also die Energie, die bei der Herstellung, beim Transport und beim Einbau von Baustoffen anfällt. Diese ist durch die Wiederverwendung gebrauchter Materialien fast auf null reduziert.
„Immerhin liegt der Anteil der grauen Energie bei einem Neubau in Bezug auf den Gesamtenergiebedarf in der Herstellung bei 40 bis 60 Prozent“, zitieren die Cityförster-Architekten eine Studie des Bundesamts BBSR »
Altbauten als Rohstofflager beim Baustoffrecycling
„Der vorhandene Gebäudebestand kann also als riesiges Rohstofflager begriffen werden.“ Aus diesem Lager haben sich die am Bau des Prototyps in Hannover Beteiligten erfreulich hemmungslos und mit Köpfchen bedient. Die Konstruktion sollte eigentlich aus Stahl bestehen. Doch da die Tragfähigkeit der alten Stahlträger nicht einwandfrei zu bestimmen war, schwenkte man auf ein Tragwerk aus Massivholz um. Nun findet sich Altstahl in den Treppen- und Türenkonstruktionen – hier und da sind die Schweißstellen als dekoratives Element sichtbar.
Die Holzkonstruktion ist neu. Ihre einzelnen Lagen wurden aber nicht wie üblich verleimt, sondern verschraubt. Sollte das Haus einmal weichen müssen, kann es einfach auseinandergenommen werden – die Möglichkeit des zukünftigen Recyclings wurde gleich mit eingebaut.
Die Bodenplatte unter dem Haus ist aus Recyclingbeton und liegt auf einer dämmenden Schotterschicht aus Altglas. Und als bei den Erdarbeiten ein zwei Meter langes Fundamentstück zutage trat, wurde es kurzerhand zur Sitzbank umfunktioniert und in den Garten gesetzt – wieder einige Zentner Beton, die nicht auf einer Deponie landen.
Ein Haus als Inspirationsquelle für mehr Nachhaltigkeit
Genau diese Ideen waren es, die Dorothee Weinlich begeisterten, als sie das Haus auf einer Immobilienplattform fand. Achim Bothmann war erst nicht so überzeugt. Auch er befasst sich mit Nachhaltigkeit und lebt seit längerer Zeit plastikfrei. Aber lässt sich dieser Gedanke auf ein ganzes Haus übertragen? Je mehr sich Bothmann mit den Details befasste, desto mehr wuchs die Begeisterung: So sind die Teppiche aus sogenannten Geisternetzen aus der Nordsee gefertigt. Das sind mürbe gewordene Kunststoffnetze, die Fischer einfach als Müll im Meer hinterlassen.
Alte Ziegel wurden zum einen als nichttragende Innenwände aufgerichtet, finden sich aber auch in geschredderter Form im Terrazzoboden sowie vor dem Haus als Bodenbelag. „Als ich dann auch noch die alten Bauernhaustüren sah, die jetzt luftige, raumhohe Durchgänge bieten, hat es endgültig klick gemacht“, erzählt Achim Bothmann.
Manches im Haus, etwa das grüne Waschbecken aus den 1970er-Jahren, trägt natürlich Gebrauchsspuren, ist aber ohne Weiteres nutzbar. „Die Waschbecken müssen wir, bedingt durch ihre mittlerweile raue Oberfläche, vielleicht etwas häufiger und sorgfältiger putzen“, räumt der Bewohner ein. „Doch gerade das schätzen wir auch. Wir spüren, dass viele Details auch vor uns schon mal jemandem Freude bereitet haben.“
Buntes Umfeld fürs Recyclinghaus
Zum nachhaltigen Leben gehört natürlich auch ein kleiner Selbstversorger-Garten, und so haben Bothmann-Weinlichs in diesem Jahr einiges vor: „Wir möchten Wildblumen, Kräuter, Stauden und Gräser aussäen und Hochbeete anlegen – Hauptsache, es blüht“, freut sich Achim Bothmann auf den Start der Gartensaison. „Nach zwei Jahren im Haus sprießt zwar schon einiges, aber es soll noch viel bunter werden.“
Mit dieser Begeisterung sind die Bewohner die idealen Botschafter für die Idee, ein Haus komplett aus gebrauchten Materialien zu bauen – dieser Plan ist perfekt aufgegangen.
Zahlen – Daten – Fakten
Wohnfläche: 130 m², Terrasse: 26 m²
Materialien: wiederverwendete Bauteile, Recyclingprodukte, recyclingfähige Baustoffe, recyclinggerecht verbaut
Planung: Cityförster architecture + urbanism
Bauherrin und Ausführung: Gundlach GmbH & Co. KG
Auszeichnung: Sonderpreis Nachhaltigkeit beim Deutschen Fassadenpreis 2020
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